Eine Reise nach Lodz

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Stationen


Eine Erzählung von Gesa Conring










Emden, Bahnhof, 23. Oktober 1941,  11.27 Uhr, -2°C

Schaudernd blickte Eiko Janssen zum trübgrauen Himmel auf und schlug den Kragen seines Mantels hoch. Ein feiner Nieselregen durchnässte seine Kleider ebenso wie die der Juden, die an ihm vorbeigingen.
Doch spürten sie die Kälte wahrscheinlich nicht so stark wie Eiko. Denn sie alle trugen mehrere Kleidungsstücke übereinander, sodass ihre Körper merkwürdig unförmig aussahen, während sie den Weg zu den Eisenbahnwaggons zurücklegten, die sie ins Ungewisse bringen sollten. Gebeugt und humpelnd liefen sie, die letzten Juden aus Ostfriesland, von denen keiner jünger als 50 Jahre alt war. Alle anderen, alle Männer, Frauen und Kinder waren schon abgeholt worden. Eiko erinnerte sich nur ungern an das Geschrei der Kinder, das Weinen der Frauen und die harten Blicke der Männer, denn all das gab ihm das Gefühl, Schuld an ihrem Abtransport zu tragen. Auch jetzt konnte er den Alten nicht ins Gesicht blicken, ohne sich zu schämen. Er kannte sie, zumindest einige von ihnen. Er war damit aufgewachsen, dass Isaak van der Wyk ihm zuzwinkerte und ihn den Ochsen streicheln ließ, den er gerade von einem der Bauern aus der Umgebung gekauft hatte. „Der schor ist koudel!“, erklärte er Eiko dann auf jiddisch. „Ein guter Ochse ist das“, übersetzte er für den verwirrten Jungen und lachte laut, wenn Eiko die fremdartigen Worte fasziniert wiederholte. Eiko hatte es immer gemocht, wenn die strenge Rebekka Valk ihm ein sparsames Lächeln geschenkt hatte, wenn sie den Gemischtwarenladen seines Vaters betreten und ein halbes Pfund Kaffee verlangt hatte. Sogar den alten Aaron hatte Eiko gemocht, der im Sommer verstorben war und von dem alle behauptetet hatten, er wäre verrückt. Jener hatte bei jedem Wetter auf einer Bank, deren Farbe abblätterte und deren Schrauben verrostet waren, vor dem jüdischen Altersheim in der Klaas-Tholen-Straße gesessen und Eiko ein paar Brotkrumen in die Hand gedrückt, mit denen er die Tauben füttern sollte. Mit brüchiger, hoher Stimme hatte er dann gelacht, wenn Eiko im Schneidersitz dasaß, von mehreren gurrenden Tauben umringt. Irgendwann hatte die Realität Eiko jedoch eingeholt. Er war, so wie jeder Junge in der Umgebung, der HJ beigetreten und sein Vater hatte es den Juden verboten, in seinem Geschäft einzukaufen. Sie würden das deutsche Volk in den Untergang führen, erklärte er seinem Sohn. Deshalb empfand Eiko auch so etwas wie Genugtuung. Eine Art Befriedigung, die ihm nicht so recht schmecken wollte und in die er sich doch hineinsteigerte, um nicht mehr an den Ausdruck in den Augen der Juden denken zu müssen, die aus seiner Kindheit nicht wegzudenken waren und nun für immer aus Emden, aus Ostfriesland und aus seinem Leben verschwinden würden.

Emden, Bahnhof, 23. Oktober 1941, 12.04 Uhr, -3°C

Mit einem Ruck setzte der Zug sich in Bewegung und Sara Valk musterte die Menschen, die sich am Bahnhof versammelt hatten, mit kundigem Blick. Die Polizei hatte alle angewiesen, die Vorhänge der Fenster geschlossen zu halten, doch Sara spähte durch einen kleinen Schlitz hindurch nach draußen. „Riekchen, ist das nicht der kleene[1] Eiko?“, fragte sie die alte Rebekka, die mit zusammengekniffenen Lippen dasaß und auf ihre Hände hinabstarrte, die sie ihm Schoß gefaltet hatte. Sie blickte auf, schob den Vorhang ein Stück zur Seite und erhaschte einen letzten Blick auf den jungen Mann mit dem hochgeschlagenen Mantelkragen, der auf seine Stiefelspitzen hinabsah, und nicht, wie alle anderen Anwesenden, laut schrie, lachte oder die Faust nach dem anfahrenden Zug schüttelte. Sie nickte nur stumm, bevor sie den Blick wieder senkte und ihre Hände weiterhin betrachtete. Neben Sara und Rebekka Valk saßen einige Norder Juden in dem Abteil mit den harten, ungemütlichen Holzbänken. „Sara, ist ja gut“, bemerkte eine Frau und tätschelte einer anderen, die zum wiederholten Male heftig hustete, den Arm. Sie seufzte. „Allzu lange kann die Fahrt nicht dauern. Wenn wir da sind, wird alles wieder gut werden. Wo auch immer das sein wird.“ Ihre Stimme wurde immer leiser, bevor sie sich müde zurücklehnte und die Augen schloss. Keiner der Anwesenden wusste, wie falsch Lina Altgenug mit ihren Vermutungen lag.

Berlin, Hauptbahnhof, 24. Oktober 1941, 13.27 Uhr, -5°C

Bereits seit Stunden stand der Zug still. Zuerst hatte man laute Stimmen gehört; Befehle wurden gebellt, Schreie wurden laut. Sara Valk schaute bereits zum zehnten Mal innerhalb der letzten halben Stunde unruhig nach draußen. „Sie hängen weitere Waggons an“, erklärte sie allen Anwesenden laut. „Ich glaube, wir müssen so lange warten, weil die Züge der Wehrmacht Vorrang haben.“ Zustimmendes Gemurmel erhob sich. Ihre Namensvetterin, die Sara aus Norden, hustete erneut. „Wo fahren wir überhaupt hin?“, fragte da eine Frau, deren Gesicht fast vollständig von einem dicken Schal bedeckt wurde. Damit sprach sie die Frage aus, die sich bereits seit dem Beginn ihrer Reise alle stellten und auf die niemand eine Antwort wusste. „Weit weg“, äußerste Lina Altgenug. „Ich glaube nicht, dass wir dort jemanden kennen, geschweige denn eine Tasse Tee bekommen können.“ Auf vielen Lippen entstand ein müdes Lächeln. Plötzlich dachten sie alle an heißen Tee und einen warmen Teller Suppe mit einem Kanten Schwarzbrot dazu. Seit ihrer Abfahrt in Emden hatten sie nichts mehr zu essen bekommen und nur wenige waren so klug gewesen, sich Nahrung einzupacken. Und die, die Brot dabei hatten, aßen dies hastig auf, während die anderen ihnen traurig und gierig zugleich dabei zuschauten.

Lodz, Bahnhof Radegast, 25. Oktober 1941, 8.13 Uhr, -5°C

Als der Zug zum Stehen kam, verstummten alle Gespräche. Die Türen der Waggons wurden aufgerissen und uniformierte Männer wiesen die Juden an, hinauszukommen und ihr Gepäck auf Handkarren zu verladen. Der Weg ins Ghetto sei zu weit, um es zu tragen. „Ghetto?“, fragte Sara Schulenklopper in die entstandene Stille hinein, bevor sie ein weiterer Hustenanfall schüttelte. Zitternd, humpelnd und vom langen Sitzen merkwürdig steif verließen die letzten Juden Ostfrieslands die Waggons, ihre wenigen Habseligkeiten eng an die Körper gepresst. Vereinzelte Schneeflocken wehten ihnen in die Gesichter, setzten sich auf Mänteln und Mützen und bildeten dort bald eine feine Decke, die nicht wärmte. „Wo sind wir hier?“, wandte sich Lazarus Altgenug, ein ehemaliger Schlachter aus Norden, an einen der Männer. Dieser musterte den alten Mann einige Augenblicke lang, als würde er mit sich selbst darüber hadern, ob er antworten sollte. „Litzmannstadt“, antwortete er schließlich knapp und wandte sich ab. Lina Altgenug fasste ihren Bruder Lazarus am Arm und zog ihn mit sich, als dieser ansetzte, etwas zu erwidern. „Los, pack deine Sachen hier hinauf“, wies sie Lazarus an und stellte ihr Bündel mit auf den Handkarren, auf dem bereits die Habseligkeiten von Frieda Schönthal und den Schulenkloppers lagen. Lina hatte schon davon gehört, dass es im Osten Ghettos für Juden gab und doch hatte sie nie gedacht, dort selber einmal hinzugelangen und dort leben zu müssen. Der Weg vom Bahnhof hin zum Ghetto war etwa 6 Kilometer lang. Früher, als sie jung gewesen waren, hätten sie alle diesen Weg in zügigem Tempo hinter sich bringen können. Nun jedoch, alt und geschwächt wie sie waren, brauchten sie länger. Die Kälte biss ihnen in Finger, Wangen und Nasen, die Nässe der schlammigen Straße drang in ihre Schuhe ein und machte ihnen das Laufen noch schwerer, während sie die Handwagen mit ihren wenigen Habseligkeiten hinter sich herzogen.

Lodz, Ghetto, Hertastraße 25, 25. Oktober 1941, 11.43 Uhr, -5°C

„Das kann doch nicht deren Ernst sein!“, rief Jenny de Vries entsetzt und schaute sich in dem leeren Raum um, der den alten Ostfriesen als provisorische Unterkunft zugewiesen worden war. „Zuerst diese lächerliche Registrierung in der Verwaltung und jetzt das! Und diese ganzen Polen, habt ihr sie gesehen? Ich sage euch, die bringen uns nur Ärger!“, beschwerte sie sich lautstark.
Auch alle anderen waren entsetzt – das sah man ihnen an -, doch wagte es keiner, seiner Missmut und seinem Entsetzen so wortreich Ausdruck zu verleihen wie Jenny. „Das hier ist nur provisorisch, uns werden noch bessere Wohnungen zugewiesen“, versuchte Klara Philipstein die aufgebrachte Frau zu besänftigen. Der aufkeimende Streit wurde unterbrochen, als eine junge Frau ins Zimmer trat, einen großen Topf dampfender Suppe und einen Korb Brot tragend. Sie stellte ihn auf den einzigen Tisch im Raum und sah die Menschen, die in dem großen Raum standen, auffordernd an. Gemurmel füllte den kargen Raum mit den grauen Wänden, von denen der Putz bereits abbröckelte, während alle ihre Koffer und Bündel nach einem Gefäß absuchten, in das die heiße Suppe gefüllt werden konnte. Jenny war die Erste, die Suppe bekam und auch die Erste, die angewidert das Gesicht verzog, bevor sie das dampfende Gebräu zurück in den Topf kippte. „Nein danke, Fräulein, das können Sie behalten!“, fauchte sie das Mädchen an, das die Suppe austeilte. „Jecke…“, murmelte jenes abfällig, als es der alten Frau einen harten Kanten Brot in die Hand drückte. Hungrig schlang Jenny das harte Brot hinunter, so sehr ihre Zähne dabei auch schmerzen mochten – der Schmerz in ihrem leeren Magen war größer.

Lodz, Ghetto, Hertastraße 25, 26. Oktober 1941, 01.17 Uhr, -9°C

Lia Altgenug konnte nicht schlafen. Ihr Körper schmerzte; nicht nur vom Alter, der langen Zugfahrt und dem anstrengenden Fußmarsch vom Bahnhof ins Ghetto, nein, auch, weil sie – so wie alle anderen auch – auf dem Boden schlafen musste. Als Matratze und Decke mussten die mitgebrachten Kleidungsstücke dienen. Seit das Mädchen am Mittag gekommen war, um ihnen Suppe und Brot zu geben, hatten sie nichts mehr zu essen bekommen, weshalb Linas Magen laut knurrte. Die Bezeichnung Suppe war irreführend: Nichts erinnerte an die dicken, reichhaltigen Suppen, die es zuhause in Norden immer gegeben hatte, außer dass sie auch heiß war. Hier in Litzmannstadt gab es eine Suppe, die nur aus heißem Wasser bestand, in dem einige Kohlstrunken und Kartoffelschalen schwammen. Sie war geschmacklos und machte nicht satt, ebenso wenig wie das harte, altbackene Brot, das alle sofort gierig hinuntergeschlungen hatten. Lina glaubte, die einzige zu sein, die den mitleidigen und zugleich auch abwertenden Blick des polnischen Mädchens bemerkt hatte. Stana hieß sie, wie Linas Bruder Lazarus in Erfahrung gebracht hatte. Sie war eine Wydzielaczka, eine der Frauen, die die Suppe ausgaben. Letzteres hatte sie in einer schwer verständlichen Mischung aus Polnisch, Jiddisch und brüchigem Deutsch erklärt. „Ihr jeckes, ihr aus zachód! Ihr nicht wissen, wie hier leben“, hatte sie außerdem noch erklärt und den Kopf darüber geschüttelt, dass alle ihr Brot so schnell aufgegessen hatten. Mehr hatten sie von Stana nicht in Erfahrung bringen können. Sara Schulenklopper hustete laut und ließ einige Schlafenden aufschrecken. „Lala?“, wispernd wandte Lina sich an ihren Bruder und benutzte dabei den Kosenamen, mit dem sie ihn immer bedacht hatte, als sie noch Kinder gewesen waren. Jener lag neben ihr, den Blick starr an die Decke gerichtet und seine Hand fest um seine Taschenuhr geschlossen, den einzigen Reichtum, den er noch besaß.
„Lala, was soll nur aus uns werden? Wir haben nichts mehr und sind jetzt an diesem furchtbaren Ort.“
Lazarus drehte den Kopf, sah seine ältere Schwester mit einem kleinen Lächeln an, das seinen abgebrochenen Schneidezahn entblößte. Er hatte ihn sich mit 16 abgebrochen, als er sich mit einem Jungen aus der Sielstraße in Norden wegen eines Mädchens geprügelt hatte. Noch vor ein paar Tagen hätte Lina geschworen, es wäre erst einige Stunden her, dass sie ihren kleinen Bruder streng angewiesen hatte, den Mund aufzumachen, während sie sich die vom Kochen schmutzigen Hände an der Schürze abwischte, so frisch waren die Erinnerungen noch. In den letzten paar Tagen war allerdings so viel geschehen, dass ihre Jugend sowie der ganze Rest ihres Lebens in Norden in den Hintergrund rückte und hinter einem grauen Schleier zu verschwinden schien. Es zählte nur noch das Jetzt, der jetzige Hunger, die jetzigen Schmerzen, die jetzige Verlassenheit, die jetzige Angst.
„Es wird alles gut werden, Lina“, riss Lazarus sie aus ihren Gedanken und tätschelte vorsichtig ihre Schulter. „Du hast gehört, was man uns bei der Zentralverwaltung gesagt hat – in ein paar Tagen werden wir umquartiert, in die Gnesener Straße. Dort wird es uns besser gehen.“
Lina konnte darauf nichts erwidern, sie konnte nur hoffen.

Lodz, Ghetto, Gnesener Straße 26, 1. Dezember 1941, 14.49 Uhr, -1°C

Es schneite an dem Tag, an dem die letzten Juden aus Ostfriesland ihre provisorische Unterkunft verließen und in der Gnesener Straße 26 untergebracht wurden, ein Haus, das für die nächsten Monate ihr Zuhause werden sollte. Als sie die schmale Treppe hochstiegen, schwer atmend und ächzend, befürchteten sie das Schlimmste, doch erwarteten sie in den Zimmern, die sie sich immer mit sechs bis zehn Personen teilten, Betten, Tische und einige wackelige Stühle. Diese Zustände waren natürlich nichts im Vergleich zu der Heimat an der Nordseeküste, die sie hinter sich lassen mussten, doch hatten die Ostfriesischen Juden sehr schnell gelernt, auch den kleinsten Luxus anzuerkennen und mit ihm zufrieden zu sein. Stumm setzte Lina Altgenug sich auf eine der Holzpritschen, die ihr, wenn sie auf das notdürftige Lager, das ihr in den letzten Wochen als Schlafstätte gedient hatte, wie ein enormer Reichtum erschien.  Sara Schulenklopper war vor einigen Tagen gestorben, sie war ihrer Lungenentzündung erlegen. Zuerst war ihr Fieber immer weiter gestiegen und ihr Atem ging röchelnd und quälend. Selbst der Arzt, den man bestellt hatte, war nicht mehr in der Lage gewesen, Sara zu helfen. Nun fühlte Lina sich noch etwas einsamer, noch etwas verlassener als zuvor. Sie hatte Sara von jüngster Kindheit an gekannt und hatte nun das Gefühl, dass ihre Heimat und ihre Vergangenheit ihr immer mehr entrissen wurde: Zuerst hatte sie von Zuhause fortgemusst, ihre ganzen persönlichen Gegenstände dort lassen müssen und nun verließen sie auch noch die Menschen, die ihre Erinnerungen lebendig gehalten hatten. Lazarus hustete, als er sich neben Lina setzte. Er hatte keine Lungenentzündung, wie Sara sie gehabt hatte, sondern einen Bronchialkatarrh. Der Arzt hatte ihm geraten, sich mit Apfelessig getränkte Wickel auf die Brust zu legen.
Lina hätte es ebenso getan, sie kannte dieses alte Hausrezept. Doch das Problem war, dass es so etwas wie Essig im Ghetto nicht gab. Ebenso wenig wie frisches Brot, Obst, Gemüse, Fleisch, Tee oder Zucker. Allein Kaffee gab es, eine wässrige, dunkle Brühe, die ein jeder gierig trank, um jedenfalls kurzzeitig die Kälte aus dem Körper zu vertreiben. „Ich werde bald an Joseph schreiben, damit er uns Geld schickt“, erklärte Lazarus seiner Schwester und diese nickte zustimmend. „Die Lebensmittelmarken reichen nicht, ich will Hala bitten, uns etwas zu Essen zu besorgen.“
Da die Lebensmittel im Ghetto knapp waren, wurden an jeden Marken verteilt, die es ihm erlaubten, eine gewisse Menge an Nahrungsmitteln zu erwerben. Da diese Menge allerdings sehr klein war, blühte der Schwarzmarkt. Hala war die junge Krankenschwester, die sich um die Alten in der Gnesener Straße 26 kümmerte und immer bereit war, ihnen behilflich zu sein.
Sollte Joseph Geld schicken, würde Hala dafür Brot kaufen können, vielleicht sogar ein Fläschchen Essig, mit dem Lazarus‘ Husten zu lindern wäre.

Lodz, Ghetto, Gnesener Straße 26, 31. Dezember 1941, 22.53 Uhr, -19°C

Hala Pollak war überrascht, als sie sah, dass die alte Rebekka Valk am Fenster stand und in die Dunkelheit hinausstarrte. „Was gibt es dort draußen zu sehen?“, fragte Hala sanft und fasste die Frau am Arm, um sie zu ihrer Pritsche zurückzuführen. „Dunkelheit, mien Wicht[2], nichts als Dunkelheit“, gab Rebekka leise zurück und ließ widerstandslos zu, dass Hala ihr half sich hinzulegen und sie mit einer schmuddeligen, flickenbesetzten Decke zudeckte. „Und ich habe Hunger, solchen Hunger…“, klagte sie. Nur zu gerne hätte Hala der alten Rebekka Valk geholfen, ihr eine warme Schüssel Haferschleim gekocht und ihr eine Tasse dampfenden Tee eingeschenkt. Hala hatte recht früh bemerkt, dass die Alten in der Gnesener Straße 26 zwar ebenso unter der Kälte und dem Hunger litten wie alle anderen Juden im Ghetto, aber trotzdem noch etwas anderes vermissten, als ein warmes Kaminfeuer und ein gutes Stück Brot, großzügig mit Butter beschmiert.
Teedurst nannten sie es. Sie vermissten schwarzen Tee. Hala konnte dies ebenso wenig nachvollziehen wie die Redenwendungen und Ausdrücke, die die Alten manchmal verwendeten. Die Krankenschwester war eine jüdische Polin und beherrschte neben ihre Muttersprache auch noch Jiddisch und Deutsch, das sich mit Hilfe von Henny Waldmann angeeignet hatte. Henny Waldmann war mit den jeckes aus Ostfriesland in das Ghetto gekommen, und auch wenn sie sich genauso verhielt wie alle anderen Alten hier, sah Hala sie doch eher als Polin denn als Deutsche an, da sie in Rawicz geboren worden war. Doch verstanden weder sie noch Hala viel von den Gesprächen der Alten, wenn sie sich in einem merkwürdigen breiten Dialekt unterhielten. Moin, sagten sie, wenn sie sich begrüßten, was fast wie moi klang. Dieses Wort hatte Lina Altgenug ihr einmal beigebracht, als sie über Halas blonde Haarlocken gestrichen hatte. Hübsch bedeute es. Es gefiel Hala, dass eine Begrüßung fast so viel bedeutete wie etwas Schönes, etwas Gutes. Sehr schnell eignete sie sich dieses Wort an und die Alten lachten immer ein gutmütiges, zahnloses Lachen, wenn sie morgens mit einem Moin auf den Lippen die Räumlichkeiten betrat. Hala seufzte leise, bevor sie den Raum verließ, im engen Flur stehen blieb und sich gegen die schlecht verputzte Wand lehnte. Sie schloss die Augen und lauschte. Früher war das Ghetto noch ein Teil einer großen vor Leben pulsierenden Stadt gewesen. Bis spät in die Nacht hinein hatte man Automobile und Pferdekutschen auf den Straßen hören können und Lachen war aus vielen Gaststuben gedrungen. Jetzt war das Ghetto still. Kein Laut war zu hören, nicht mal ein Hund schlug an. Allein im Haus war gedämpftes Husten und leises Schnarchen zu hören. Hala zog sich ihr Schultertuch fester um den Körper, als sie erschauderte. Ein neues Jahr würde bald anbrechen und die junge Krankenschwester ahnte, dass es schwer werden würde. Doch hatte sie keine Ahnung davon, wie groß und unsagbar das Grauen war, das auf sie alle zukam.

Lodz, Ghetto, Gnesener Straße 26, 15. April 1942, 7.13 Uhr, -2°C

Nur langsam verdrängte der Frühling den eisigen Winter und die erstem warmen Sonnenstrahlen des Jahres wurden von allen genossen. Sie erhellten die grauen Gassen des Ghettos und ließen die wenigen noch heilen Fensterschieben glitzern und blinken. „Lina, alles Gute zum Geburtstag“, sagte Frieda Schönthal und überreichte Lina Altgenug einen Forsythienzweig, dessen Knospen noch fast alle fest verschlossen waren. Nur einige kleine Blüten lenkten den Blick eines jeden, der den Raum betrat, auf das leuchtende Gelb. Ehrfürchtig strich Lina über die zarten Pflanzenknospen. „Wat moi!“[3], rief sie aus und nahm Frieda herzlich in den Arm. Lina fühlte sich in diesem Augenblick, als würde sie aus einem tiefen Schlaf erwachen, in dem sie die schrecklichsten Träume gequält hatten. Der Sonnenschein zusammen mit dem Geschenk von Frieda gaben ihr das Gefühl, dass nun eine neue Zeit angebrochen war, dass der strenge Winter voller Entbehrungen, Hunger und Krankheiten, die so viele dahingerafft hatten, endlich zu Ende war und nun endlich ein neues Leben beginnen konnte.

Lodz, Ghetto, Gnesener Straße 26, 11. Mai 1942, 8.26 Uhr, 7°C

„Und wohin genau bringen sie uns?“, fragte Johanna Philipson ihren Mann Luis, während sie eilig ihre Habseligkeiten in einen Koffer packte. „In ein Arbeitslager, sagst du?“
Luis nickte bedächtig. „Ja, das hat man mir gesagt. Aussiedlung steht auf der Bekanntmachung.“
„Ich verstehe aber nicht, was für Arbeiten wir verrichten sollten“, erwiderte Johanna und wies auf die anderen Alten, die sich das Zimmer mit dem Ehepaar Philipson teilten und ebenfalls ihre Koffer und Bündel packten. „Bereits 30 von uns sind in diesem Winter gestorben, viele sind krank und so schwach, dass sie kaum noch gehen können. Was gibt es, was wir für die Deutschen noch tun könnten?“
Johanna hatte irgendwann begonnen, zwischen den Juden und den Deutschen zu unterscheiden; sie sah sich selbst nicht mehr als Deutsche, nur noch als Jüdin. Ob man polnisch, deutsch, französisch, holländisch, tschechisch oder russisch sprach, war egal – man war Jude und damit anders. Man war nicht deutsch. „Pass auf, dass du nicht zu viel einpackst“, warnte Luis seine Frau. „Es heißt, man dürfte nur 12 Kilogramm an Gepäck mitnehmen.“  „Weshalb das?“, mischte sich Else Gossels ein, von ihrem Rucksack aufblickend. „Wir brauchen unsere Sachen doch, was sollen wir denn ohne Kleidung dort?“
„Ich habe von Adam gehört,“ meldete sich Joseph ten Brink zu Wort, „dass alle, die ausgesiedelt werden, ihre Sachen noch am Bahnhof zurücklassen müssen.“ „Adam! Der redet viel, wenn der Tag lang ist!“, schnaubte Luis. „Er arbeitet doch in Radegast und als ich ihn gestern am Brunnen getroffen habe, hat er geschworen, er hätte gesehen, wie Waggons voller Kleidung, Koffer und Schuhe ankamen. Die müssen doch irgendwo herkommen, nicht?“ Joseph ließ sich nicht beirren. „Ich weiß nicht, was mit uns geschehen wird, aber ich kann euch allen mit Sicherheit sagen, dass es nichts Gutes ist!“

Bahnhof Kolo, etwa 70 km von Lodz entfernt, 11. Mai 1942, 17.31 Uhr, 15°C

Sara Hartog schaute blinzelnd in den blauen Himmel. Es erschien ihr immer noch so unwirklich, dass sie das Ghetto verlassen hatte. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass der Winter vorbei war und nun ein warmer Sommer vor ihr lag, in dem sie in einem Arbeitslager arbeiten sollte. Sicher, das waren keine sehr angenehmen Aussichten, aber sie waren allemal besser als weitere Monate in einem kalten, feuchten Haus zu verbringen, in dem es weder Heizung noch richtiges Essen gab.
Sara schulterte ihren Rucksack und folgte den anderen, die bereits auf Lastwagen saßen.
„Glaubt mir, das hier wird noch böse enden!“, brummte Joseph ten Brink, als Sara sich neben ihn setzte und der Lastwagen schließlich anfuhr. „Schojte! Jetzt sei doch still, du machst uns allen nur unnötig Angst!“, herrschte Lazarus Altgenug ihn an, bevor er sich die schmerzenden Knie rieb. „Es wird alles gut werden, ganz sicher.“ Sara griff nach der Hand ihrer Freundin Rosa Wolff und drückte sie fest. „Ich habe es dir doch gesagt, Rosa“, stellte sie fest. „Alles wird gut.“ Wohlwollend sah Sara sich die hügelige Landschaft an. Alles sah so friedlich aus, man konnte keine bösen Gedanken bei diesem schönen Wetter hegen. Da blieb ihr Blick an einer dunklen Rauchsäule hängen, die aus einem weit entfernten Waldstück zu kommen schien. „Seht ihr das?“, wandte sie sich an die anderen. „Was ist das?“ Lina Altgenug legte nachdenklich den Kopf schief. „Scheint so, als ob dort eine große Fabrik ist, meint ihr nicht?“, meinte sie und zog sich den Schal fester um den dürren Hals, da der Wind recht kühl war. Alle nickten zustimmend. Ja, das würde es wohl sein. Sara Hartog musste plötzlich an ihre Kindheit in Aurich denken, an die warmen Sommertage, an denen sie mit ihrer Mutter draußen gesessen und gestrickt hatte, an die langen Abende, an denen sie mit ihren Geschwistern auf dem Teppich gesessen und Brettspiele gespielt hatte und an die klaren Morgen, an denen sie ihre kleine Schwester Henni an die Hand genommen hatte, während sie Milch geholt hatten.
Und in dem Moment wünschte Sara sich, wieder zuhause zu sein. Nicht nur, weil sie dort ein Haus hatten, sondern auch, weil dort alles einmal gewesen war, was ihr lieb und teuer war: Ihre Familie, ihre Freunde. Dort wusste sie, was sie erwarten würde, wenn sie das Haus verließ.



[1] Kleen. Klein, hier: der kleine Eiko

[2] Mien Wicht = Mein Mädchen

[3] Wat moi = wie schön

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Land der Entdeckungen 2013


 

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